Das „Schneeflockenmeter“.
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Siehe Anm. 0) und 1)
Diese im Bild konstruierte Kurve hat unter den mathematischen Figuren einen hohen Bekanntheitsgrad. Zumindest kennt sie jeder Mathematikstudent aus den ersten Semestern als ein
Beispiel einer Kurve, die nirgends glatt ist sondern nur aus Spitzen
besteht.
Gescheiterte und gelungene Zähmungen eines "maßlosen" Monsters
Inhalt
1 Die seltsame Kurve - das "Monster":
2 Die Frage nach einem Maß:
2a Scheitern Nr. 1 - Eine Kurve, die für eine Längenmessung zu lang ist.
2b Scheitern Nr. 2 - Ein Gekräusel, das für Flächenmessung nicht dicht genug ist
3 Das Messen ist zweimal gescheitert!
Nun eine Lösung, ein passender Messversuch
4 Protokolle als Messgehilfen
5 Selbstähnlichkeitsdimension und Schneeflockeninhalt
6 Schluß
Literatur
1 Die seltsame Kurve - das "Monster":
Abb. 1
Erzeugung der Schneeflockenkurve
Zu ihrer Konstruktion geht man von einer Einheitsstrecke aus, sie sei als
Figur F(0) bezeichnet. Der Konstruktionsprozeß besteht in einer Iteration. Man
erzeugt in Gedanken aus der erreichten Figur immer wieder eine neue und
zwar immer nach der selben Vorschrift: In jeder Strecke wird das mittlere
Drittel, wie in Abb. 1b dargestellt, durch zwei Seiten eines
gleichschenkligen Dreiecks ersetzt.
Die nach dem n-ten
Iterationschritt erhaltene Figur werde als Figur F(n) bezeichnet. Zur
Verdeutlichung sind in den Abbildungen 1a) bis d) die
Konstruktionsschritte F(0), F(1), F(2) und F(3) dargestellt.
Unter der
Schneeflockenkurve versteht man nun die in Abb. 1e angedeutete Grenzfigur
F(unendl), die man „nach unendlich vielen Konstruktionsschritten" erhält.
Anm. 2)
Die Schneeflockenkurve wurde von Helge von Koch um 1904 erstmalig beschrieben, und zwar als Beitrag zur mathematischen Grundlagenforschung (Siehe
Literatur H. Koch 1904!) und heißt deswegen in der Mathematik auch
„Kochkurve“. Es ging damals um die Abgrenzung der Begriffe Stetigkeit und
Differenzierbarkeit. Die Kochkurve ist überall stetig (= "durchgehende Funktionskurve ohne
Lücken und Sprünge") und nirgends differenzierbar (= nirgends glatt) sondern nur aus Spitzen bestehend.
Bekannt ist auch die Selbstähnlichkeit der Schneeflockenkurve, ein interessante Symmetrieeigenschaft, die in diesem Beitrag mehrmals von benutzt wird.
Teile der Figur sind exakte verkleinerte Kopien der ganzen Figur. Eine
solche Eigenschaft gilt als typisch für sog. Fraktale, eine in den
siebziger Jahren von B. Mandelbrot ins Leben gerufenen Bezeichnung für
einer Reihe von komplexen geometrischen Figuren.
Gibt es die Figur
überhaupt? Diese Grenzfigur kann niemand zeichnen. Niemand hat sie je
gesehen! Gibt es sie überhaupt? Oder ist sie ein Hirngespinst?
Diese spannende Diskussion ist an dieser Stelle nicht das Thema.
Nur
eine grobe kurze Antwort sei versucht: Wenn man die Existenz der reellen
Zahlen als Punkte auf der Zahlengeraden akzeptiert inclusive der
irrationalen Punkte (wie z.B. Wurzel(2), der Länge der Diagonalen des Quadrates
mit der Kantenlänge 1), dann liegt von jedem Punkt der zweidimensionalen
Koordinatenebene eindeutig fest, ob er zur Grenzkurve F(unendl) gehört oder
nicht. Also muss man auch die Existenz dieser Grenzkurve F(unendl) akzeptieren.
Die Frage stellt sich, ob wir denn überhaupt wissen, wie diese Figur aussieht, wenn sie noch niemand gesehen hat. In Abb. 2e etwa wurde eigentlich gelogen. Wir haben
den Computer die Annäherungsfigur F(6) zeichnen lassen und daran den Namen
F(unendl) gesetzt. Trotzdem sind die realen Annäherungsfiguren der
Iteration unser Trostpflaster. Es stimmt zwar nicht eine der Linienstücke mit der Kochkurve überein, da jede Linie im nächsten Iterationsschritt wieder aufgebrochen wird. Die Grenzfigur hat keine Linienstücke mehr. Aber jeder einmal benutzte Eckpunkt gehört zur Grenzfigur. Man kann die Abweichungen dieser falschen Figuren von der Grenzfigur beliebig klein machen. Also „stimmt“ die Vorstellung von der Grenzfigur, die aus diesen Annäherungen gewonnen wird.
Als anderes Beispiel einer solchen Grenzfigur ist den Schülerinnen und Schülern häufig
aus der Mittelstufe der Kreis bekannt, wenn er durch n-Ecke angenähert
wird. Dabei wird u.a. die Länge der Kreislinie und der Inhalt der Fläche
bestimmt und dazu die Zahl p eingeführt. Das mathematische „Monstrum“
Schneeflockenkurve erweist sich im Vergleich zur Kreislinie als
schwieriger und seltsamer.
Zum Anfang
2 Die Frage nach einem Maß:
Wie schon anfangs erwähnt, gilt in
diesem Beitrag die Leitfrage nicht den qualitativen Merk-malen sondern dem
Messen. Die Schneeflockenkurve ist eine unendlich filigran gekräuselte
Linie. Man sieht in Abb. 2, daß von diesem feinen "Gekräusel", von dem
„Substrat“ Schnee-flockenkurve zwischen den Punkten A und B offensichtlich
mehr vorhanden ist als zwischen B und C. Vielleicht sechseinhalb mal
soviel? Oder ist es mehr oder ist es weniger? Das soll im folgenden
gemessen werden. Aber wie? Was ist das richtige Maß?
Abb. 2: Schneeflockenkurve mit Teilausschnitten
Zum Anfang
2a Scheitern Nr. 1 - Eine Kurve, die für eine Längenmessung zu lang ist
Allen Schülerinnen und Schülern, denen die Schneeflockenkurve jemals begegnet ist, ist bekannt, daß eine klassische
Längenmessung nicht möglich ist. Denn die Länge der Ausgangsfigur wird
mit jedem Iterationsschritt um den Faktor 4/3 vergrößert. Damit wächst die
Länge der Annäherungsfiguren exponentiell über jede Grenze.
Andererseits muss jede Annäherungsfigur als Streckenzug kürzer sein
Grenzfigur, da sie in jedem Fall noch zusätzliche Windungen enthalten
muss. Bei Weiterführung des Grundsatzes von Euklid, daß eine Strecke die
kürzeste Verbindung zweier Punkte ist, bleibt „unendlich“ die einzige
Möglichkeit für die Länge der Schneeflockenkurve.
Noch paradoxer wird
der Sachverhalt dadurch, daß auch alle Teilstücke einer
Schneeflocken-kurve unendliche Länge haben. Es stellt sich die Frage,
wieviele unendlich lange Teilstücke man in einer Schneeflockenkurve
aneinandergereiht vorfinden kann. Es sind mehr als jede endliche Zahl,
sind es abzählbar viele oder überabzählbar viele? Und jedes hat wiederum
ge-nausoviel unendlich lange Teilstücke usw.! Es wird deutlich, wie
beängstigend lang dieses „Längenmonster“ Schneeflockenkurve ist, obwohl es
diese Länge auf einem begrenzten Flächenstück entfalten muß.
Zum Anfang
2b Scheitern Nr. 2 - Ein Gekräusel, das für Flächenmessung nicht dicht genug ist
Auf die Idee, dieser gekräuselten Linie einen Flächeninhalt
zuzuordnen, kommen Schülerin-nen und Schüler nicht so schnell. Die
bekannte „Drachenkurve“ oder auch die „Penaokurve“ können aber Flächen
beliebig dicht zudecken. und man kann sinnvoll den Inhalt der durch sie so
"zugedeckten" Fläche messen. Etwa beim Kreis lernt jeder Schüler kennen,
wie man durch Auszählen immer feinerer die Kreisfläche überdeckenden
Quadrate den Flächeninhalt als Grenzwert beliebig genau abschät-zen kann.
Versuchen wir nun, auch einen Flächeninhalt der Schneeflockenkurve
abzuschätzen, indem man geeignet beliebig feine Quadrate darüber legt und
den Grenzwert der Summe der Inhalte dieser Überdeckungsquadrate bestimmt.
Abb. 3
In Abbildung 3 ist die Konstruktion dieser Überdeckung mit Quadraten dargestellt. Man erkennt drei größere, an der Grundlinie der Länge 1 nebeneinander gelegte Quadrate der Kantenlänge 1/3, die die Schneeflockenkurve überdecken. Sie überdecken die Schneeflockenkurve und der Flächeninhalt der gesamten Schneeflockenkurve müßte also kleiner als der dieser drei Quadrate sein. Er ist
A(0) = 3 x (1/3)^2 = 1/3 [FE]
sein (FE steht für Flächeneinheit).
Schon etwas besser kann man die fragliche
Fläche der Schneeflockenkurve mit Quadraten der Kantenlänge 1/9 mit dem
Inhalt (1/9)^2 = (1/81) abschätzen. Man erkennt, dass sich die ganze Kurve
aus vier kleinere Kurvenstücke zusammensetzt, die exakte um den Faktor 1/3
verkleinerte Kopien der ganzen Kurve sind.
Diese vier Teilstücke werden im kleinen mit Quadraten der Kantenlänge 1/9 genauso überdeckt wie zuvor das ganze Kurvenstück. Aus
A(0) = 1/3
wird dann
A(1) = 4 × 3 × (1/9)^2 = (1/3) × (4/9) = A(0) × (4/9) [FE].
Ähnlich erhält man beim Überdecken mit Quadraten der Kantenlänge 1/27:
A(2) = A(1) × (4/9) = A(0) × (4/9)^2 [FE].
Bei immer weiteren Überdeckungen mit immer kleineren Quadraten der Kantenlänge (1/3)^n erhält man also
A(n) = A(0) × (4/9)^n [FE].
Der Gesamtinhalt dieser die Schneeflockenkurve vollständig "zudeckende" Inhalt wird mit wachsendem beliebig klein. Ein Flächeninhalt der Schneeflockenkurve kann nicht größer als dieser Wert sein, ist damit also genau Null.
Zum Anfang
3. Das Messen ist zweimal gescheitert!
Nun eine Lösung, ein passender Messversuch:
Die beiden herkömmlichen Methoden der Längen- und Flächenmessung versagen bei
der Schneeflockenkurve. Die eine ergibt zuviel (jedes Mal Unendlich!), die
andere zu wenig (je-des Mal Null), um sinnvoll zu messen.
Trotzdem
bleibt unsere Frage bestehen. Die beiden Teilstücke in Abb. 3 sind
offensichtlich verschieden groß. Wie kann man sie sinnvoll quantitativ
vergleichen? Gibt es eine Alternative zur herkömmlichen Längen- oder
Flächenmessung? Während in vielen Beiträgen an dieser Stelle jedes wirkliche Messen meist
aufgegeben und allenfalls die fraktale Dimension bestimmt wird, suchen wir weiter nach einer Alternativen. Dabei kommen wir mathematisch näher an das sogenannte Hausdorffmaß mit seinen Ursprüngen bei Felix Hausdorff.
Die Lösung! Eine neue
Maßeinheit muss her: Das Schneeflockenmeter Als erstes seien Grundlagen
des Messens reflektiert:
Zum Messen eine Gegenstandes braucht man
immer zwei, einer von zu bestimmender Größe, und ein anderer, mit dem er
verglichen (= gemessen) wird.
Es gelten die Grundsätze allen Messens:
1. Zwei zerlegungsgleiche Figuren haben gleiches Maß.
(Zerlegungsgleich heißt: Es gibt eine Zerlegung der einen in solche
Teilstücke, mit denen man die andere ohne Lücken und Überscheidungen
auslegen kann. Insbesondere sind zwei kongruente Figuren sind
inhaltsgleich.) F zlgsgl G à M(F) = M(G)
2. Wenn ich eine Figur in
zwei Teile zerlege, dann ist der Inhalt der Gesamtfigur gleich der Summe
des Inhalts der beiden Teilfiguren. M(F u G) = M(F) + M(G), wenn F d G =
{}
Zur vollständigen Einführung eines Maßes in einem System von
Figuren gehört eine Maßein-heit(Maßstab). Eine Figur aus dem System muss
zur Bildung deiner solchen Maßeinheit ausgewählt werden. Von den anderen
Figuren wird „gemessen“, indem man zählt, in wieviel Exemplare dieser
ausgewählten Maßfigur sie zerlegt werden kann.
Der Inhalt dieser
Maßfigur erhält das Maß 1 und ist die Maßeinheit beim Arbeiten mit dem
betr. Größenbereich.
Beispiele:
B1) Die Maßfigur der
Längen ist die Meterstrecke, also jede Strecke, die gleichlang zum Urmeter
in Paris ist. Ihre Länge heißt 1 Meter (kurz: 1 m) und ist Einheit für
Längen.
B2) Die Maßfigur für Flächeninhalte ist ein „Meterquadrat“
- das sei ein Quadrat mit den Kantenlängen 1m. Es hat den Flächeninhalt 1
Quadratmeter (kurz: 1 qm bzw. 1 m2 usw.). Letzteres ist die Einheit der
Flächenmessung.
Wenn die gewählte Maßeinheit in der Praxis zu grob
ist, kann man kleinere daraus ableiten. Und wenn (wie bei der
Meterstrecke, dem Meterquadrat, dem Meterwürfel) eine Maßfigur in
verkleinerte Kopien ihrer selbst zerlegbar ist, geht das besonders gut.
Beispiel:
Der Inhalt eines „Dezimeterquadrates“ (das sei ein
Quadrat der Kantenlänge 1 dm) ist der 100te Teil des Quadratmeters, da
sich ein Meterquadrat in 100 Dezimeterquadrate zerlegen läßt. Kurz: 1 dm2
= 1/100 m2. (Bei einem "Meterkreis" etwa als alternativer Maßeinheit für
Flächeninhalte wäre eine Zerlegung in kleinere Einheiten so nicht
möglich!)
Diese abgeleiteten Maßeinheiten haben lediglich
praktischen Nutzen sind aber prinzipiell ent-behrlich.
Für das
Messen von Schneeflockenkurven suchen wir nun eine geeignete Maßfigur,
deren Inhalt dann die Maßeinheit ist. Eigentlich ist das gar nicht so
schwierig, diese zu finden. Wenn man sich überlegt, daß bei den
Flächeninhalten ein Quadrat mit den Seitenlängen 1 m als Maßfigur dient
und bei Volumina ein Maßwürfel mit den Kantenlängen 1 m, so könnte bei den
Schneeflockenkurveninhalten eine Schneeflockenkurve mit der
Grundseitenlänge 1 m gewählt werden, also die Schneeflockengrenzfigur F¥,
die entsteht, wenn die Schneeflockenkonstruktion auf eine Ausgangsstrecke
von der Länge 1 m angewendet wird. Diese Meter-schneeflockenkurve und alle
zu ihr kongruenten und zerlegungsgleichen Figuren haben den Inhalt 1
Schneeflockenmeter = 1 Sm. 1 Sm sei die Maßeinheit für die
Schneeflockeninhalte.
Der Einfachheit halber werde das
Repräsentantensystem (= System der zu messenden Schneeflockenkurven) auf
diese „Urschneeflockenkurve“, auf alle Teilstücke und auf neue
abzählba-ren Zusammensetzungen davon beschränkt. Es sei als S1 bezeichnet.
Im folgenden Abschnitt wird demonstriert, wie der Inhalt von beliebigen
Teilstücken der Meterschneeflockenkurve ausgemessen werden kann. Wie sich
zeigen wird, kommen in diesem einfach erscheinende System auch schon
inkommensurable Figuren vor, das sind solche, deren Inhalt man nicht mit
endlich vielen Bruchteilen der Maßeinheit erfassen kann (wie die Länge der
Diagonale des Einheitsquadrates im System der Strecken). Es wird also auch
mit unendlichen Zerlegungen zu arbeiten sein.
Zum Schluß noch zwei
Anmerkungen: Wie bei den alltäglichen Größenbereichen gewohnt, kann man
auch kleinere Maßeinheiten ableiten, allerdings nicht passend zum
Zehnersystem was bei Strecken, Flächen und Volumen wegen der
Selbstähnlichkeit mit dem möglichen Streckfaktor k = 10 sondern wegen des
Streckfaktors 3 im Dreiersystem. Ein Dezimeterquadrat hat die Maßeinheit 1
Quadratdezime-ter = 1dm^2, 1 dm^2 = 1/100 m^2. Eine
Drittelmeterschneeflockenkurve hat die Maßeinheit 1
Schneeflockendrittelmeter = 1 Sdrm. 1 Sdrm = 1/4 Sm, denn die
Meterschneeflockenkurve läßt sich in vier Drittelmeterkurven zerlegen.
Entsprechen hat die Neuntelmeterkurve die Maßeinheit
Schneeflockenneuntelmeter = 1 Snem und 1 Snem = 1/16 Sm.
Weiter
sei darauf hingewiesen, daß das so gewählte System von Schneeflockenkurven
stark eingeschränkt ist. Es fehlen mangels endlicher oder abzählbarer
Zerlegungsgleichheit z.B. die Halbmeter-, die Viertelmeter-,
Dezimetermeterschneeflockenkurve. Auf die Einbeziehung dieser
verkleinerten Kopien der Meterschneeflockenkurve wird im Abschnitt 5
eingegangen.
Zum Anfang
4 Protokolle als Messgehilfen Test
Es gilt nun, den Inhalt
eines Teilstückes zwischen zwei beliebigen Punkten der
Meterschnee-flockenkurve auszumessen.
Nachzulesen in W. Sternemann 1998 IPN Kiel.)
(Letztlich wird ein solches Teilstück durch höchstens abzählbar viele verkleinerte Kopien der Meterschneeflocke und deren Zusammenfassungen("Bündelungen") ausgemessen. Die Maßzahlen kann man direkt in endliche oder unendlichen 4-adischen Brüche übersetzen. Jeder 4-adische Bruch hat dem entsprechend höchstens abzählbar viele Ziffern.
Zum Anfang
5 Selbstähnlichkeitsdimension und Schneeflockeninhalt
Die fraktale
Dimension D = log(4)/log(3) de Schneeflockenkurve ergibt sich bekanntlich
aus der strengen Selbstähnlichkeit. In der Schule begründet man diese
seltsame Dimension ge-wöhnlich nach folgendem Schema:
· Die
Selbstähnlichkeit wird festgestellt. Sie besagt in diesem Fall, daß die
Figur genau aus vier um den Faktor 1/3 gestauchten Kopien ihrer selbst
besteht. Oder umgekehrt gesagt: Man erhält 4 Schneeflockenkurven, wenn man
eine um den Faktor 3 zentrisch streckt. · Dies wird verglichen mit schon
vertrauten Figuren, die sich für die Schüler überraschend auch als
selbstähnlich erweisen. Rechteck, Parallelogramm, Dreieck, u.a. Flächen
wie auch Quader, Tetraeder, u.a. Körper, wo man jedesmal die mit geeignet
gewähltem Faktor k ge-streckte Figur in eine Anzahl f von Kopien zerlegen
kann. · Bei diesen vertrauten Flächen und Körpern „entdeckt“ man eine
Beziehung zwischen f und k: f = k2 bei Flächen und f = k3 bei Körpern.
Eine Streckung um den Faktor k bewirkt also eine Vervielfachung um kD ,
wobei D mit 2 oder 3 die Dimension der Figur ist. Das läßt sich sogar auf
Strecken erweitern, da diese auch selbstähnlich sind. Dieser Zusammenhang
stellt sich von der zentrischen Streckung her als aus der Mittelstufe
bekannt heraus. Dort war k nicht nur ein geeignet zu wählender sondern ein
beliebiger positiver reeller Streck-faktor, und f keine Anzahl sondern der
reelle Faktor, um den der Flächeninhalt bzw. das Volumen wuchs. · Dieser
Zusammenhang wird formal auf die Schneeflockenkurve übertragen. Sucht man
auch hier anstelle der Exponenten 2 und 3 im Vervielfachungsfaktor nach
einem passenden neuen Exponenten D, so führt das zu 4 = 3D bzw. D =
log(4)/log(3).
Bei dieser Einführung als
Selbstähnlichkeitsdimension wird die fraktale Dimension gegen-über dem
Schüler allein als Vervielfachungsexponent beim Strecken um den Faktor 3
begrün-det. Zum einen stört dabei, daß diese Definition streng genommen
allein für die streng selbstähnli-che, auf einer Strecke konstruierte
spezielle Schneeflockenkurve gilt. Nicht für die Teilfiguren und nicht für
zusammengesetzte Schneeflockenkurven wie die „Küste“ der
Schneeflockenin-sel u.a. Man dehnt dann intuitiv, aber ohne mathematische
Begründung den gewohnheitsmä-ßig weiter benutzten Begriff der Dimension
auf alle anderen Schneeflockenkurvenfiguren aus.
Zum anderen wirkt
es sehr künstlich, daß das Strecken auf die Wahl von k = 3 mit
zugehöri-gem f = 4 beschränkt ist. Bei den selbstähnlichen Flächen und
Körpern war k Î N wählbar und erweiterbar auf beliebiges k Î R, wenn man
von den zu zählenden Figurenkopien zu den entsprechenden Inhalten
überging. Auch die sich bei Mehrfachstreckung ergebende mögliche
Ausweitung der einzigen Wahl von k = 3 auf unendlich viele mit k = 3n n Î
N, überzeugt nicht wirklich sondern läßt die fraktale Dimension der
Schneeflockenkurve weiterhin eher als etwas künstliches erscheinen.
Mit dem hier entwickelten Schneeflockeninhalt als Stütze kann man
beide störenden Aspekte mildern bzw. beseitigen. Erstens kann man
nachrechnen, daß für alle Repräsentanten unseres
Schneeflockenfigurensystems gilt: Streckung um den Faktor 3 vervielfacht
den Schneeflo-ckeninhalt um 4. Die Gleichung 4 = 3D bezieht sich also auf
die Inhaltszunahme auch der nichtselbstähnlichen Schneeflockenkurven. D
ist damit Wachstumsexponent des Inhalts beim Strecken um den Faktor k = 3.
Zweitens kann man auch die störende Einschränkung auf k = 3
zumindest abmildern. Prob-lemlos ist die Erweiterung auf k = 3z, z Î Z. ,
indem man mehrfach vorwärts und rückwärts streckt. Der Faktor f der
Inhaltszunahme zum Strecken um k = 3z ist dann offensichtlich f = 4z =
(3D)z = (3z)D = kD. Dies gilt für alle, auch die nichtselbstähnlichen
Figuren unseres Reprä-sentantensystems. Eine Erweiterung dieses Ansatzes
auf beliebiges k Î R wie bei Linien, Flä-chen und Körpern erfordert andere
Methoden des Zerlegens bzw. „Ausmessens“, nämlich die von F. Hausdorff für
seine heute nach ihm benannten „Hausdorffdimension“ benutzten belie-bigen,
offenen, höchstens abzählbaren, „beliebig feinen“ Überdeckungen. Es wäre
zu prüfen, ob es, um die schwierige Definition des Hausdorffmaßes zu
umgehen, für die Schule nicht wohldefiniert und widerspruchsfrei möglich
ist, für beliebige k den Inhalt einer um k gestreckten Figur F’ einfach
per Definition auf den Inhalt der Ausgangsfigur F zurückzuführen indem man
I(F’) =Df kD ×I(F) mit D = log(4)/log(3) setzt.
Ist S1 das
zuvor zugrundegelegte Repräsentantensystem aller zur
Meterschneeflocken-kurve gehörenden Schneeflockenkurven, dann ist mit
dieser Definition das System der meßba-ren Schneeflockenkurven auf S =
{k×M½ k Î R, M Î S1} ausgeweitet. S ist groß genug, um alle spontan
vorstellbaren Schneeflockengebilde zu erfassen.
Zum Anfang
6 Schluß
Es ist fast selbstverständlich, daß diese
Überlegungen exemplarisch sind und nicht nur für Schneeflockenkurven
durchführbar sind. Analog kann man mit anderen Figurensystemen aus
Cantormengen, Sierpinksidreiecken, u.a. verfahren. Mit der hier
ausgeführten Interpretation der fraktalen Dimension als „Wachstumsexponent
eines zugehörigen Inhalts beim Strecken“ trifft man einen wesentlichen
Aspekt der Fraktale. Sie ist für Schüler nachvollziehbar und einsichtig.
Die intuitiven Zusatzdeutungen wie „Maß für Komplexität“ oder
„Verfranstheit“, „Filigranität“, „Zerklüftetheit“ usw. empfehlen sich
weniger, da die Definition der gebrochenen Dimension sie nicht her gibt.
Die Erfahrung zeigt, daß diese Deutungen immer wieder durch Gegenbeispiele
relativiert bzw. in Frage gestellt werden müssen. Die Deutung als
Wachstumsexponent des Inhalts beim Strecken um den Fak-tor k hat den
Vorteil, daß sie in allen Fällen zutrifft.
Felix Hausdorff führte
1919 in der bekannten Arbeit mit der heute nach ihm benannten
„Hausdorff-Dimension“ den mathematisch tragfähigsten Begriff einer
gebrochenen Dimensi-on ein. Schon er stellt dort zu seiner komplizierten
nur zusammen mit einem Maß definierten Dimension genau die Eigenschaft als
Wachstumsexponent fest: „ ... Wenn überdies L(B) = mp × L(A) ist sobald B
zu a im Verhältnis m : 1 ähnlich ist, so nen-nen wir L ein äußeres Maß der
Dimension p. ...“, (Hausdorff 1919 S. 158) Falconer schreibt in dem
Lehrbuch „Fractal Geometry“ : „ ... On magnification by the factor l ...
the volume of a 3-dimensional object is multiplied with l3. As might be
anticipated, s-dimensional hausdorff measure scales with the factor ls ...
Such scaling properties are fundamental to the theory of fractals. ...“,
zusätzlich die fundamentale Bedeutung dieser eigen-schaft betonend.
(Falconer. 1990, S. 26)
Hausdorff ging es allerdings primär nicht
um eine neue Dimension sondern um ein neues Maß, er sprach von einem
„p-dimensionalen Maß“ und erwähnte dabei eher implizit auch eine neue
Dimension. Überhaupt wird der in diesem Beitrag vertretene Standpunkt, die
fraktale Dimension in engem Zusammenhang mit dem Messen zu sehen, schon
dadurch bestärkt, daß mathematisch und mathematikgeschichtlich die
gebrochene Dimension nur zusammen mit einem zugehörigen Maß auftritt. Sie
war ursprünglich ein Hilfsmittel für ein neues Maß, eher ein Nebenprodukt.
Hausdorffs Bezeichnungen für diese Dimensionszahl wie
„Graduierungsmerkmale“, „Ord-nung des Nullwerdens“, „Stärke der
Konvergenz“ oder „Konvergenzexponent“ belegen das (Hausdorff 1919 S. 157).
Im vorliegenden Beitrag ging es um einen Elementarisierungsversuch
des Dimensionsbegriffs auf dem Level der Schulmathematik. Ein ergänzender
und m. E. näher an der Hausdorffdi-mension liegender Versuch, die fraktale
Dimension als Meßbarkeitsexponent auch bei nichtselbstähnlichen Fraktalen
zu verstehen, wird in (Sternemann 1995.1, Kapitel 5) versucht..
Zum Anfang
Literatur
von Koch, Helge"Sur une courbe continue sans tangente, obtenue par une constuction
géometrique élémentaire", Arkiv för Matematik 1 (1904), 681-704
W. Sternemann. Das "Schneeflockenmeter". Ein Denkanstoß zum Messen von Schneeflockenkurven. In M. Komorek/ R. Duit/ M. Schnegelberger (Hrsg.), Fraktale im Unterricht IPN-Materialien Kiel 1998
Anmerkungen:
1) Dieses Dokument ist eine veränderte Fassung eines vor einigen Jahren erschienen Aufsatzes mit gleichem Titel (Siehe oben unter Literatur!).
Diskussionen darüber sind willkommen.
Email: sternemann(at)t-online.de
2) F(unendl) ist lediglich eine Sprechweise genauso wie "unendlich oft iterieren". Letztlich ist damit lediglich die Grenzfigur gemeint, deren Punkte in der Ebene eindeutig festliegen und von der die Iterationsfiguren F(n) mit wachsendem n beliebig wenig unterscheidbar sind.
Zum Anfang